Ein Kapitel aus dem Buch ‘Die Schriften von Accra’ von Paulo Coelho.
Und die Ehefrau eines Händlers bat: “Sprich zu uns über Sex.”
Und der Kopte antwortete:
“Manner und Frauen sprechen nur im Flüsterton über körperliche Liebe, denn in der Welt, in der wir heute leben, ist ein ursprünglich heiliger Akt etwas Sündiges geworden.
Doch auf die Dauer ist es gefährlich, die Wirklichkeit zu verleugnen. Ungehorsam kann durchaus auch eine Tugend sein, wenn wir ihn zu nutzen wissen.
Allein die Vereinigung von zwei Körpern ist noch keine körperliche Liebe, sondern nur Lust.
Doch wahre körperliche Liebe ist viel mehr als nur Lust. In ihr gehen Anspannung und Entspannung, Schmerz und Freude, Schüchternheit und die Kühnheit Hand in Hand, um Grenzen zu überschreiten.
Sind so viele Gegensätze miteinander vereinbar? Es gibt nur ein Mittel: durch Hingabe.
Denn Hingabe bedeutet: ‘Ich vertraue dir.’
Es reicht nicht, sich alles nur vorzustellen, was geschehen könnte, wenn wir erlauben würden, dass sich nicht nur unsere Körper, sondern auch unsere Seelen vereinigen.
Machen wir uns also gemeinsam auf den gefährlichen Weg der Hingabe. Er ist zwar gefährlich, aber der einzige.
Mag dies auch in unserer Welt manches auf den Kopf stellen, so gewinnen wir doch die vollkommene Liebe nur, wenn wir die Pforte zwischen Körper und Geist öffnen.
Vergessen wir, was uns beigebracht wurde: dass es edel ist zu geben und erniedrigend zu empfangen.
Denn für die meisten Menschen bedeutet Grosszügigkeit nur Geben. Aber etwas zu empfangen ist auch ein Akt der Liebe: zuzulassen, dass der andere Mensch uns glücklich macht – und dass dies ihn ebenfalls beglückt.
Wenn wir bei der körperlichen Liebe zu selbstlos sind und unsere Sorge hauptsächlich unserem Partner gilt, kann das dazu führen, dass unsere Lust abklingt oder gar vollständig verschwindet.
Wenn wir jedoch imstande sind, mit der gleichen Intensität zu geben und zu empfangen, spannt sich der Körper an wie die Bogensehne eines Schützen. Zugleich aber entspannt sich der Geist wie kurz vor dem Abschuss des Pfeils, und das Herz übernimmt die Kontrolle.
Körper und Seele begegnen sich, und die göttliche Kraft breitet sich aus – nicht nur in den der Lust zugeordneten Körperteilen, sondern bis in unsere Haarspitzen und in jeden Zentimeter Haut, so dass wir zu glühen beginnen.
Alles Spirituelle wird jetzt sichtbar, alles Sichtbare verwandelt sich in spirituelle Kraft. Alles ist erlaubt, sofern beide es zulassen.
Die Liebe ist es manchmal leid, immer nur eine sanfte Sprache zu sprechen. Sie soll ruhig auch einmal stürmisch sein dürfen und lichterloh brennen.
Gibt sich einer der Partner ganz und gar hin, wird der andere es ihm gleichtun. Die Scham wird überwunden, und Neugier tritt an ihre Stelle. Und die Neugier lässt uns all das erforschen, was wir bislang in uns nicht vermutet hatten.
Versucht, die körperliche Liebe als ein Ritual der Verwandlung zu sehen. Wie in jedem Ritual ist die Ekstase gegenwärtig und glorifiziert das Ende – sie ist aber nicht das einzige Ziel.
Das Wichtigste daran ist, uns mit unserem Partner auf unbekanntes Terrain zu wagen.
Behandle Heiliges als heilig. Und falls dich Zweifel überkommen, dann vergiss nicht: Wir sind in solchen Augenblicken nicht allein – beide Beteiligen fühlen das Gleiche.
Öffne ohne Furcht das Kästchen deiner geheimen Phantasien. Der Mut des einen wir die Kühnheit des anderen anstacheln.
Wahre Liebende können so den Garten der Schönheit betreten, ohne sich vor Blossstellung fürchten zu müssen. Sie werden nicht mehr einfach zwei Körper und zwei Seelen sein, die einander gefunden haben, sondern eine einzige Quelle, aus der das wahre Wasser des Lebens fliesst.
Die Sterne werden auf ihre nackten Körper herabscheinen, und sie werden sich nicht schämen. Vögel werden über sie hinwegfliegen, und die Liebenden werden singen wie sie. Wilde Tiere werden sich ihnen vorsichtig nähern, denn was sie zu sehen bekommen, ist noch wilder, als sie es sind. Und sie werden respektvoll den Kopf senken. Und die Zeit wird aufhören zu sein. Denn im Land der Lust, die aus wahrer Liebe entstand, ist alles unendlich.